Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestags,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich habe den politischen Kontext einer Reform der Kinder-und Jugendhilfe in der letzten Legislaturperiode in vielfacher Weise durch Stellungnahmen u.a. auch im Deutschen Bundestag kritisch begleitet und öffentlich kommentiert. Nun folgt ein erster Zwischenruf zum laufenden Reformprozess. Dieser Zwischenruf ist mit der Hoffnung verbunden, dass der Anspruch, dass Politik in einer Demokratie nach bestem Wissen und Gewissen gestaltet wird, auch erfüllt wird.
Der gegenwärtige Stand des Reformprozesses blendet aber wesentliche Probleme und Gestaltungsherausforderungen und empirische Erkenntnisse aus und erfüllt damit bisher nicht die Anforderung, nach besten Wissen die Reform der Kinder-und Jugendhilfe gestalten zu wollen.
Es ist an der Zeit, dass die Zielrichtung und die Eckpunkte der Reform der Kinder-und Jugendhilfe stärker durch die Legislative in Kooperation mit Forschung und Praxis entwickelt werden
Herzliche Grüße
Wolfgang Hammer
Dr. Wolfgang Hammer: Vortrag auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit in Bielefeld am 06.09.2018
Verdi Workshop : Zwischen Aktenbergen und Kindeswohl - Über den Wert der Gesetze oder wie der Geist verloren gehen kann, wenn die Angst vor den Kosten
den Diskurs über den Wert Sozialer Arbeit ersetzt ... Auszug (unten download):
"Diese Aufgabe kann nur gemeinsam von Politik und Fachebene gelöst werden. Für diesen Prozess müssen mindestens 2 Jahre angesetzt werden. Erst bei Vorliegen von Eckpunkten einer solchen Auswertung und Empfehlungen für die Schwerpunkte und die Richtung einer gesetzlichen Reform und deren Kosten kann ein Reformvorhaben zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes seriös auf den Weg gebracht werden. Deshalb sollte die Zeit in der verbleibenden Legislaturperiode genutzt werden, zügig eine Enquetekommission durch den Deutschen Bundestag einzusetzen, die den Auftrag hat, Eckpunkte für eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe zu erarbeiten, auf deren Grundlage in der nächsten Legislaturperiode eine breitgetragene nachhaltige und finanzierbare Reform auf den Weg gebracht werden kann."
- Eines der reichsten Länder der Welt muss in der Lage sein, Kinderarmut und ihre Folgen zu bekämpfen!
- Ein Land , dass auf die Mündigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger setzt, muss die Handlungsfähigkeit von Familien stärken und nicht deren Kontrolle.
- Ein Land, dass nach vorn blickt, stärkt Rechte von Eltern und Kindern gegenüber der staatlichen Gemeinschaft und spielt nicht Rechte von Eltern und Kindern gegeneinander aus.
- Eine Reform, die den Anspruch erhebt "vom Kind aus zu denken ", braucht Reformer*innen, die auf die Kraft der Freiheit und Ermutigung setzen.
Am 22. September 2017 sollte die SGB VIII D(R)eformierung noch mal im Bundesrat verhandelt werden, aber das euphemistisch "Kinder-und Jugendstärkungsgesetz (KJSG)" genannte Vorhaben wurde erneut von der TO des Bundesrates abgesetzt. Ein vorläufiges Scheitern und ein kleiner Zwischenerfolg unserer Anstrengungen; die weitere Bürokratisierung und Kontrollorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe konnte gestoppt werden. ver.di hatte zuletzt alle Mitglieder des Bundesrates angeschrieben mit der Forderung, den vorliegenden Gesetzentwurf (KJSG) abzulehnen.
"Dessen ungeachtet sehen Fachwelt und Politik gemeinsam einen Handlungsbedarf für einen Start zu einer echten Reform in dieser Legislaturperiode unter Einbeziehung der Fachwelt von Anfang an. Besonders konkret haben sich dazu die CDU/CSU - Fraktion (Marcus Weinberg) und die Fraktion Die Linke (Norbert Müller) im Bundestag geäußert. Beide Fraktionen haben durch ihre Fachsprecher und in Presseerklärungen angekündigt, sich nach der Bundestagswahl für eine Enquetekommission im Neuen Bundestag einzusetzen, die Empfehlungen für Eckpunkte einer Reform erarbeiten soll. Auch die Fraktion Die Grünen (Katja Dörner) hat einen Neustart unter Einbeziehung der Fachwelt gefordert. Dieser Forderung haben sich auch die Gewerkschaften Ver.di und GEW angeschlossen und die Länder aufgefordert, das Rumpfgesetz nicht im Bundesrat zu beschließen." (Dr. Wolfgang Hammer Herbst 2017)
Die überwiegend kritischen Stellungnahmen der geladenen Sachverständigen im Familienausschuss des Bundestages am 19.06.2017, darunter Dr. phil. Wolfgang Hammer, Dr. phil. Marie-Luise Conen, Thomas Mörsberger, Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner, Prof. Dr. Holger Ziegler, in der Öffentlichen Anhörung sind unter diesem LINK abrufbar!
Auszug aus ihrem Artikel (s.u. Download):
"Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass der Staat der bessere, kompetentere und gerechtere Erzieher ist als Eltern, die ihr Kind ohne präventive Eignungsprüfung in die Welt setzen, sichmehr oder weniger gut verstehen, in Erziehungsfragen nicht systematisch geschult sind und neben der Kindererziehung mit vielen anderen Widrigkeiten des Lebens fertig werden müssen. Die Schicksalhaftigkeit der familiären Herkunft ist nicht immer leicht zu ertragen. Doch sollte man auch gegenüber den Fähigkeiten des Staates nicht unkritisch werden: Staatliche Stellen haben weder die Ressourcen noch die Kompetenzen, um jedes Kind bestmöglich zu fördern. Zudem lässt sich abstrakt kaum bestimmen, welche Art von Erziehung für Kinder die beste ist. Im Gegenteil verbietet der Gedanke, dass die Persönlichkeitsentwicklung in sozialen Bezügen stattfindet, eine Standardisierung von Erziehungskonzepten. Der Satz des Bundesverfassungsgerichts, Eltern seien im Zweifel die Personen, denen das Wohl ihrer Kinder am meisten am Herzen liegt, hat darum nichts an Aktualität verloren.
3. Fazit: Was kann der Staat für Kinder tun?
Ein kritischer Blick auf die Grenzen öffentlicher Erziehung bedeutet nicht, dass der Staat nichts für Kinder tun kann. Das Mindeste ist, die öffentlichen Institutionen so auszustatten, dass sie
kompetent und wirksam eingreifen können, wenn einem Kind ein Schaden droht. In der Grauzone, in der Kinder unter schlechten, aber noch nicht gefährdenden Bedingungen aufwachsen, wäre eine
sinnvolle und großzügige staatliche Politik der Kinder- und Jugendförderung ebenso hilfreich wie ein öffentliches Schulsystem, das Chancengleichheit wirksam ermöglicht. Um das zu erreichen,
bedarf es kluger politischer Entscheidungen und angemessener Ressourcen. Eine Grundgesetzänderung ist billiger zu haben. Außer schönen Worten hat sie Kindern aber nichts zu bieten."
"Es ist an der Zeit diesen zutiefst misslungenen Reformentwurf zurückzuziehen. Was geschehen muss, ist möglichst bald einen Diskurs darüber zu eröffnen, wie das Zielbild einer zukünftigen Kinder- und Jugendhilfe aussehen soll, welcher sozial- und finanzpolitischer Voraussetzungen es bedarf und wie viel davon durch welche Änderung der Gesetze befördert werden kann. ...Was wir nicht brauchen, ist ein durch Misstrauen, Kontrollwut und staatliches Allmachtstreben geprägtes Reformverständnis."
Siehe unten 4 Downloads und dieser TAZ-Artikel. Dr. Wolfgang Hammer leitete von 1982 bis 2013 die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde. Von 2005 an war er Sprecher der Jugendministerkonferenz für Kinderschutz und als solcher maßgeblich am Bundeskinderschutzgesetz beteiligt.
"Die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, die sich selbst „vom Kinde aus denken“ als Leitziel gesetzt hat, braucht einen Neustart ... [ Denn daraus wurde in dem Entwurf ] ein `vom Staate aus denken´. Dieser neue Staat ist aber kein fürsorglicher mehr, sondern ein bevormundender und allmächtiger..."